Bei einer Video-Konferenz der FDP steht die Kindergarten-Arbeit im Fokus
"Die Vereinbarung von Beruf und Familie macht den Staat reich", sagte René Rock, Fraktionsvorsitzender der FDP im Hessischen Landtag. Doch dieser Reichtum komme, so erläuterte er weiter, nicht bei den Kommunen, die zuständig sind für den Betrieb der Kindertagesstätten, an. Das Thema der Videokonferenz, zu welcher die Friedrichsdorfer FDP eingeladen hatte, klang provokant: "Frühkindliche Bildung: Kinderkram?" Dazu passten sowohl Rocks Vortrag und seine Forderung nach Qualitätsverbesserung in hessischen Kindertagesstätten als auch Dr. Kristina Edels Vortrag über die Umsetzung kontinuierlicher und konsequenter Sprachförderung in Kindertagesstätten und Schulen.
Edel ist Geschäftsführerin des Vereins "Initiative Sprache Lesen Lernen (InSL)" und bringt seit 27 Jahren Kindern mit Migrationshintergrund die Komplexität der deutschen Sprache bei: "Sprache ist das Mittel zur Bildung", unterstreicht sie. Während Rock für eine grundsätzliche Qualitätsverbesserung in hessischen Kindertagesstätten kämpft, muss die Sprachexpertin ihren Hebel noch tiefer ansetzen. Sie muss das Bewusstsein und die Akzeptanz dafür schaffen, dass es bei ihrem Ansatz um bildungssprachlichen Erwerb geht und nicht einfach um die bloße Fähigkeit zur sprachlichen Verständigung. Und dafür, dass nur eine langfristige Förderung des Spracherwerbs erfolgversprechend sei: "Ein Kind braucht etwa acht Jahre, um die deutsche Sprache bildungssprachlich zu erfassen."
Beide Ansätze jedenfalls haben mit Finanzierung und Ressourcen zu tun: "Bildung ist unsere wertvollste Ressource. In Hessen wird zu wenig in Bildung investiert", so die Einschätzung Rocks, wie von Ruth Hübner-Gerling, der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Friedrichsdorfer FDP, zitiert. "Beide Elternteile verdienen Geld und zahlen in die Sozialkasse ein", rechnet er vor, die Profiteure seien der Bund und das Land. Mehr als 85 Prozent der Einkommenssteuer fließe zu gleichen Teilen an Bund und Land und weniger als 15 Prozent an die einzelnen Kommunen, "die aber fast hundert Prozent der Aufgabe der Kinderbetreuung zu übernehmen haben". Das Land zahle weniger als 20 Prozent für den Anteil der Kinderbetreuung, inklusive der Bundeszuschüsse. Außerdem liege der Personalstand-Schlüssel in hessischen Kindertagesstätten "um ein Drittel unter den Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung", die zugleich europäischer Standard sei.
Die Bedeutung von Kinderliedern
"Ein Kind mit Migrationshintergrund hat eine 80-prozentige Wahrscheinlichkeit in eine Kita mit einem 60-Prozent hohen Migrationskinder-Anteil zu kommen", zitierte Rock eine Statistik. Dabei sei aber zu beachten, dass Zweisprachigkeit keinen Nachteil, sondern "eine Chance" darstelle, wie Edel klarstellte. In Ländern wie der Schweiz, Belgien, Indien und vielen afrikanischen Staaten sei Mehrsprachigkeit die Norm. Aber das deutsche Bildungssystem sei auf solch heterogene Gruppen nicht ausgelegt, weiß die Linguistin aus Erfahrung.
Und dann gebe es noch weitere Hürden zu meistern: Zum Beispiel die Auslegung der Kindertagesstätten auf halboffene Konzepte, "Kinder mit Sprachschwierigkeiten gehen dort unter", sie verweilen in ihrer "Comfort Zone" und sehen keine Notwendigkeit, ihre weiteren sozialen oder sprachlichen Kompetenzen auszubauen, so Edel.
"Eine beziehungsvolle Pädagogik ist das Zentrum in der frühen Bindung", darin waren sich Landespolitiker und Sprachexpertin einig und auch darin, dass man dafür Zeit brauche. Man müsse die zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzen, unterstrich Edel, die Bindung zur Erzieherin sei wichtig und Kinderlieder seien zum Beispiel essenzielle Elemente in der kulturellen und sprachlichen Entwicklung eines Kindes. Rock wünschte ferner ein verpflichtendes "letztes Kindergartenjahr" oder eine entsprechende Ausdehnung der Schulpflicht, mit Vorlaufkursen, die auf die Schule vorbereiten und auch mit Sprachscreenings, die helfen sollen, Defizite aufzudecken.
Und was ist mit Corona? "Schwierig", so Edel, immer weniger deutschsprachige Erwachsene sprechen mit den Kindern, maximal noch die Erzieherinnen und das hinter einer Maske. Der Spracherwerb könne stagnieren und sich verschlechtern, schlimmstenfalls verkommen zu einer "Brückensprache", wie Rock es nannte. Also einer gesprochenen Sprache, die korrekter Endungen und Pluralbindungen oder richtig angewandter Artikel entbehrt. "Die Grammatik des Deutschen ist komplex", weiß Edel, manchmal müsse man den Kindern die unterschiedlichen Endungen visualisieren bei der Aussprache: "Ist es ,n' oder ein ,m'?", ein Kind könne das nicht zwingend hören, "aber sehen, vorausgesetzt der Mund ist nicht hinter einer Maske versteckt".
Olivera Gligoric-Fürer
Quellenangabe: Taunus Zeitung vom 09.12.2020, Seite 11
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